Zwei Monate in der Notaufnahme des größten Krankenhauses Afrikas
Famulatur im Ausnahmezustand

Erzählen Sie uns ein bisschen von sich: Was fasziniert Sie an der Medizin?
Mich fasziniert an der Medizin, wie präzise und komplex der menschliche Körper funktioniert – und wie schnell dieses Gleichgewicht ins Wanken geraten kann. Besonders interessiert mich die Chirurgie. Sie verbindet medizinisches Wissen mit handwerklichem Können und bietet die Möglichkeit, mit den eigenen Händen direkt etwas zu bewirken. Oft sieht man unmittelbar die Folgen seines Tuns – genau das macht dieses Fach für mich so besonders.
Wie kam es dazu, dass Sie für Ihre Famulatur nach Südafrika gingen – und warum gerade an das Chris Hani Baragwanath Hospital?
Tatsächlich war das ein ziemlicher Zufall. Ich saß in einem Info-Vortrag der TUM über Famulaturen und das Praktische Jahr, kurz PJ, im Ausland. Als es dann um Südafrika ging, fiel schnell der Name des Chris Hani Baragwanath Hospital in Johannesburg, oder einfach „Bara“, wie es die Menschen vor Ort nennen. Der Referent sprach dabei viel über die enorme Bandbreite an verschiedensten Traumata, mit denen man dort konfrontiert wird und umzugehen lernt. Das hat mich sofort gepackt.
Das Bara ist das größte Krankenhaus Afrikas und versorgt unter anderem viele Townships – teils riesige Siedlungen aus Blechhütten, in denen Armut und Gewalt zum Alltag gehören. Staatliche Strukturen greifen oft kaum. Gewalt ist dort nicht selten ein Mittel der Selbstjustiz. Die Folge sind Patientenzahlen und Verletzungsmuster, die man sonst eher aus Krisengebieten kennt – und das jeden Tag. In diesem Moment war mir klar: Ich wollte die Realität dieses völlig anderen medizinischen Alltags erleben. Helfen, lernen und Verantwortung übernehmen, wie es als Student in Deutschland in der Form kaum möglich ist.
Wie sah Ihr typischer Alltag in der traumatologischen Notaufnahme dort aus?
Ich habe fast ausschließlich Nachtschichten gearbeitet, von 19 bis 7 Uhr, oft mit anschließender Morgenvisite. Die Nächte waren intensiv: weniger Personal, aber genauso viele – oft sogar mehr – Schwerverletzte. Ich war ab dem ersten Moment mitten im Geschehen: Schuss- und Stichverletzungen, schwere Verbrennungen, überfahrene Patientinnen oder Opfer von gewaltsamer Selbstjustiz durch Gruppen von Anwohnern, sogenannte „Mob Assaults“. Meist war ich im „Resus“, dem Bereich für die kritischsten Fälle, und konnte dort viel selbst machen: arterielle Blutabnahmen, komplexere Wundversorgungen, das Legen zentraler Venenkatheter – das sind Zugänge in große Körpervenen am Hals oder in der Leiste. Ich setzte sogar einige Thoraxdrainagen, bei denen ein Drainageschlauch in den Brustkorb gelegt wird, um eine kollabierte Lunge wieder zu entfalten.
Wenn es ruhiger war, half ich im „Pit“ aus, dem Teil der Notaufnahme, der eher an eine „normale“ Notaufnahme erinnert, wie man sie auch aus Deutschland kennt. Hier habe ich Patientinnen und Patienten aufgenommen, untersucht, versorgt und alles handschriftlich dokumentiert – ganz ohne digitale Systeme.
Was waren die größten Herausforderungen?
Die fachlichen Herausforderungen waren groß, aber am meisten gefordert hat mich der Umgang mit der Gesamtsituation. Man ist ständig mit extremen Fällen konfrontiert, sieht Leid, Tod, Chaos. Es fehlt an Material, Struktur, manchmal sogar an Licht. Viele Patientinnen und Patienten sind unter Drogen, aggressiv oder selbst Täter schwerer Gewaltverbrechen.
In so einem Umfeld ist es erstaunlich leicht, zynisch zu werden – sei es aus Stress, Überforderung oder als eine Art Selbstschutz. Trotzdem sollte man sich hier immer wieder bewusst machen, dass hinter jeder Verletzung auch ein Mensch steckt, der eine würdevolle Behandlung mit Respekt und Mitgefühl verdient. Auch gegenüber „kleineren“ Fällen nicht abzustumpfen, war nicht immer einfach – wenn man gerade noch jemanden mit multiplen Schussverletzungen versorgt hat, wirkt eine einfache Schnittwunde schnell nahezu banal. Aber für den Menschen, der da liegt, ist sie vielleicht das Schlimmste, was ihm je passiert ist.
Gab es Momente, die Ihre Perspektive auf die Medizin verändert haben?
Es gab viele Momente, die sich tief eingebrannt haben. Kinder mit schwersten Verletzungen. Menschen, die mit Benzin übergossen und angezündet wurden. Ein Vater, der sich schützend über seine Kinder warf und selbst mehrfach angeschossen wurde. Die größte Veränderung in meiner Sicht auf die Medizin kam aber nicht durch einen einzelnen Fall, sondern durch das Gesamtbild. Mir wurde klar, wie viel „Luxus-Medizin“ wir in Deutschland betreiben – und das dürfen wir ruhig zu schätzen wissen. Wir haben strenge Standards, hochspezialisierte Ärzte für jedes Teilgebiet der Medizin, engmaschige Kontrollen und die Möglichkeit, selbst kleinste Details zu optimieren. Erst im direkten Vergleich merkt man, wie privilegiert das ist.
In Südafrika ging es aufgrund der Vielzahl hochakuter Patientinnen und Patienten nicht um absolute Perfektion, sondern ums Überleben. Man musste mit dem arbeiten, was da war – an Material, Personal, Zeit. Lange Diskussionen oder aufwändige Diagnostik waren oft nicht möglich, da Entscheidungen schnell getroffen und sofort umgesetzt werden mussten. Global gesehen ist das Meckern über den Zustand des Gesundheitssystems in Deutschland doch immer noch „Meckern auf hohem Niveau“.
Wie hat Sie Ihre Zeit in Südafrika geprägt?
Fachlich war es bisher mit Abstand die lehrreichste Zeit. Ich habe in kurzer Zeit enorm viele praktische Fähigkeiten sammeln dürfen – in einem Maß, wie es in Deutschland als Student kaum möglich wäre. Man wurde gefordert, musste Verantwortung übernehmen, mitdenken, mitarbeiten – und hatte gleichzeitig das Gefühl, wirklich gebraucht zu werden.
Auf persönlicher Ebene hat diese Erfahrung in mir den Wunsch geweckt, auch in Zukunft weitere Einsätze in ähnlichen Regionen zu machen. Solche Situationen bieten die Möglichkeit, sich ganz auf die direkte Versorgung von Menschen in Not zu fokussieren, oft mit einfachen Mitteln, aber mit spürbarer Wirkung.
Technische Universität München
- Natalie Neudert
- natalie.neudert @tum.de
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