• 12.6.2019
  • Lesezeit: 3 Min.

Prof. Ruth Müller über Herausforderungen für interdisziplinäre Forschungszentren

„Interdisziplinäre Forschung braucht Zeit“

Interdisziplinarität wird für die Forschung immer wichtiger. Trotzdem gibt es Strukturen, die wissenschaftliche Karrieren für interdisziplinär arbeitende Forschende erschweren, sagt Ruth Müller, Professorin für Wissenschafts- und Technologiepolitik an der Technischen Universität München (TUM). Im Interview spricht sie über Ansätze, bestehende Hürden abzubauen und interdisziplinäre Forschung zu fördern.

Prof. Ruth Müller spricht über Hindernisse für interdisziplinäre Forschung. Uli Benz / TUM
Prof. Ruth Müller im Interview.

Der Begriff „Interdisziplinarität“ ist bei neuen wissenschaftlichen Einrichtungen und Forschungsprojekten scheinbar allgegenwärtig. Ist das mehr als ein Modewort?

Ja, auf jeden Fall. Wir stoßen auf immer mehr Probleme, die nicht mit den Methoden einer einzelnen Disziplin gelöst werden können. Interdisziplinarität hat aber schon große Sprünge möglich gemacht, als sie noch gar nicht bewusst gefördert wurde: Nach dem Zweiten Weltkrieg sind mehrere Physiker und Physikerinnen nach dem Schock der Atombombe in die Biologie gewechselt. Das war ein wichtiger Faktor für die Geburtsstunde der Molekularbiologie, weil sie ihren Blickwinkel aus der Physik auf biologische Gegenstände angewandt haben.

Sie haben ein interdisziplinäres Forschungszentrum in Schweden untersucht und anhand von Interviews nachgezeichnet, welche Hindernisse die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler dort für ihre Arbeit sehen. Ist an dem Institut etwas grundsätzlich schief gelaufen?

Falsch gemacht wurde da nichts – das ist ein tolles Forschungszentrum mit engagierten Kolleginnen und Kollegen, die tolle interdisziplinäre Arbeit leisten. Anhand der Studie lässt sich aber gut die Komplexität interdisziplinärer Forschung erkennen und die spezifischen Herausforderungen, die sich daraus ergeben.

Was genau haben Sie beobachtet?

Beispielsweise kam die Institutsleitung nach einiger Zeit zu dem Schluss, dass trotz der großen Öffentlichkeitswirkung des Instituts der Einfluss innerhalb des Wissenschaftssystems zu gering war. Bislang ist der wichtigste Gradmesser für wissenschaftlichen Erfolg die Zahl der Veröffentlichungen in renommierten Journalen. Daher wurde Druck aufgebaut, mehr Artikel in diesen Zeitschriften zu veröffentlichen. Weil die prestigeträchtigsten Journale oft auf klassische Disziplinen ausgerichtet sind, bedeutet das, dass die Forschenden ihre Arbeit bis zu einem gewissen Grad „disziplinieren“ müssen, um dort zu punkten. Die Zahl der „hochwertigen“ Publikationen beeinflusst dann wiederum, wie viel Geld für neue Forschungsprojekte eingeworben werden kann, wodurch sich zwischen den Mitgliedern des Zentrums ganz neue Dynamiken entwickelt haben.

„Bewertungssysteme richten sich bislang oft an einem einzelnen Wert aus – an ‘hochwertigen’ Veröffentlichungen.”— Prof. Ruth Müller

Sind das grundsätzliche Probleme von interdisziplinären Forschungszentren?

Dazu gibt es bislang kaum Forschung. Allerdings wird in einigen Studien geschildert, dass Forschende den Eindruck haben, dass der Preis interdisziplinärer Arbeit sehr hoch sein kann – dass dadurch etwa Hindernisse für die eigene Karriere entstehen. Das habe ich auch beobachtet: Gleich mehrfach wurde mir an dem schwedischen Institut von einem interdisziplinär forschenden Doktoranden erzählt, der bei der Verteidigung seiner gesellschaftlich überaus relevanten Doktorarbeit von der externen Prüfungskommission einseitig aus einer „disziplinären“ Perspektive bewertet worden sei. Das hat für ihn und für seine Betreuenden die Frage aufgeworfen, wie junge interdisziplinäre Forschende sinnvoll auf eine akademische Welt vorbereitet werden können, die oft noch sehr disziplinär tickt.

Was müsste sich Ihrer Meinung nach ändern?

Bewertungssysteme richten sich bislang oft an einem einzelnen Wert aus. In der Regel sind das wie gesagt „hochwertige“ Veröffentlichungen. Gerade für die Bewertung von interdisziplinärer Forschung ist es aber sinnvoll, mehrere Faktoren gleichwertig zu betrachten. Neben den Publikationen könnte das beispielsweise sein, dass Forschungsergebnisse zu einer erfolgreichen gesellschaftlichen Anwendung führen oder Wissen erzeugen, das gesellschaftliche Herausforderungen adressiert und Gesellschaften handlungsfähig macht. Dafür braucht es gut geschulte Gutachter und Gutachterinnen, die über den Tellerrand der eigenen Disziplin hinaussehen können. Sie müssen eine klare Vorstellung davon haben, welche Mission mit einem interdisziplinären Projekt verfolgt wird und deren Erfolg anhand verschiedener Indikatoren bewerten können. Ich fände eine stärkere reflexive Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Gutachten und eine speziell zugeschnittenes Training für die Gutachterinnen und Gutachter sinnvoll.

Von den Gutachten abgesehen, was könnte man noch für interdisziplinäre Forschung tun?

Ein ganz wichtiger Punkt ist die Geschwindigkeit: Interdisziplinäre Forschung braucht Zeit. Wenn man etwas gemeinsam entwickeln will, muss man erst einmal eine gemeinsame Sprache finden, sich in die Denkweise der anderen einarbeiten. Ein ganz praktischer Ansatz wäre etwa, für interdisziplinäre Doktorarbeiten von Anfang an mehr Zeit zu Verfügung zu stellen, beispielsweise die Stellen für vier anstatt für drei Jahre zu finanzieren.

Publikationen
Weitere Informationen und Links

Prof. Ruth Müller forscht am Munich Center for Technology (MCTS) der TUM. Ziel dieses Zentrums für Wissenschafts- und Technikforschung ist es, die vielfältigen Wechselwirkungen von Wissenschaft, Technologie und Gesellschaft zu verstehen und zu gestalten.

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Prof. Dr. Ruth Müller
Technische Universität München
Munich Center for Technology in Society (MCTS)
Professur für Wissenschafts- und Technologiepolitik
Tel: +49(89) 289 29214
ruth.muellerspam prevention@tum.de

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