• 3.5.2017

Barrierefrei studieren:

„Wir sind für Diversität“

Alain M.G. Kathola arbeitet seit acht Jahren als Berater an der Servicestelle für behinderte und chronisch kranke Studieninteressierte und Studierende. Den studinews berichtet er von seinem Arbeitsalltag und von den Problemen der Betroffenen.

"Die Betroffenen brauchen sehr unterschiedliche Unterstützung." Alain Kathola berät behinderte und chronisch kranke Studierende der TUM. (Foto: Maren Willkomm)
"Die Betroffenen brauchen sehr unterschiedliche Unterstützung." Alain Kathola berät behinderte und chronisch kranke Studierende der TUM. (Foto: Maren Willkomm)

TUMstudinews: Was kann man sich unter „barrierefreiem Studieren“ vorstellen?

Alain Kathola: Barrierefreies Studieren bedeutet für mich, dass die TUM den Betroffenen dabei hilft, das Studium – trotz der Beeinträchtigungen – nach Möglichkeit problemlos zu absolvieren. „Barrierefrei“ ist ein sehr umfangreiches Wort. Es gibt sichtbare und unsichtbare Barrieren, die beseitigt werden müssen. Das heißt, es geht nicht darum, dass wir als Universität überall umbauen oder Material zur Verfügung stellen, das wir gar nicht kennen.

Das heißt: Was genau gebraucht wird, müssen die Betroffenen selbst zum Ausdruck bringen.

Die Autonomie ist sehr wichtig. Die Betroffenen müssen kommen, uns ihre Situation darstellen und äußern, was ihnen fehlt. Dann überlegen wir uns gemeinsam mit Hilfe von Prüfungsausschüssen, Ansprechpartnern an den Fakultäten, Dozenten und vor allem gemeinsam mit den Betroffenen, welchen Weg wir einschlagen.  

Kann ich mir das so vorstellen, dass zum Beispiel jemand, der im Rollstuhl sitzt, eine Art Betreuer bekommt?

Es kommt darauf an. Ich erinnere mich, im Jahre 2008 hatte ich einen Klienten, der Chemie in Garching studiert hat. Wir haben uns gemeinsam die Räumlichkeiten angeschaut und er hat gar keine Hilfe gebraucht. Er wollte alles unbedingt alleine machen. Bei so jemandem braucht man keine Assistenz. Es kam allerdings auch mal ein Informatikstudent zu mir, der auch im Rollstuhl saß und gefragt hat, ob ihm jemand helfen kann, wenn es schneit. Er wurde mit Hilfe der Fakultäts- Ansprechpartnerin vor Ort dann regelmäßig von der U-Bahn in die Fakultät begleitet.

Wer zählt eigentlich genau zu den Betroffenen?

Es gibt diverse Beeinträchtigungen. In einer Studie des Studentenwerks im Jahre 2012 haben sie die Beeinträchtigungen ganz gut dargestellt. Sie unterscheiden zwischen Mobilitätseinschränkungen bis zu Psychosomatischen und Psychiatrischen Einschränkungen.

Also gehört zum Beispiel eine Depression auch dazu?

Ja definitiv. Hierbei ist es wichtig zu verstehen, was eine chronische Erkrankung ist. Davon spricht man, wenn die Beeinträchtigung länger dauert als sechs Monate. Das ist dann sozusagen eine unsichtbare Barriere. Eine depressive Person erkennt man nicht ohne weiteres.

Wie würde die Unterstützung bei einer Depression, die nicht so greifbar ist, aussehen?

Derjenige könnte zum Beispiel einen Antrag auf Prüfungsfristverlängerung stellen. Das heißt, er studiert nicht wie seine Kommilitonen, sondern reduziert sein Studienpensum. Ein Studienfachberater hilft dabei. Wenn jemand beispielsweise Morbus Chron hat, besteht die Möglichkeit, einen Antrag auf Prüfungszeitverlängerung zu stellen, da Betroffene während einer Prüfung öfter mal den Raum verlassen müssen. Wenn man in diesem Fall keinen Nachteilsausgleich bekommt, ist man automatisch benachteiligt.

Wie viele Betroffene gibt es an der TUM aktuell?

Wir erheben darüber keine Statistik, das dürfen wir auch gar nicht. Aber es sind viel mehr Betroffene mit unsichtbaren Beeinträchtigungen, als man denkt. Es gibt eine Studie vom deutschen Studentenwerk aus dem Jahr 2012, bei der herausgefunden wurde, dass acht Prozent aller Studierenden in Deutschland eine Beeinträchtigung haben. Das ist schon eine große Zahl. Da kann man sich vorstellen, wie viele Betroffene wir an der TUM ungefähr haben.

Wo gibt es an der TUM besonderen Bedarf?

Meine Klienten leiden unter den verschiedensten Beeinträchtigungen. Deswegen können wir nicht einfach sagen, dass die Betroffenen dies oder das brauchen. Es ist wirklich unterschiedlich. Fakt ist, ich finde die Stelle sehr gut, weil die TUM damit signalisiert: Wir sind für Diversität. Natürlich müssen die Betroffenen trotz allem selbst ihre Prüfungen ablegen und Leistungen erbringen. Das ist ganz klar.

Was genau sind Deine Aufgaben an der Servicestelle?

Ich verkörpere mehrere Rollen. Ich muss mit den Menschen sprechen, mir ihre Geschichte anhören und überlegen, wie ich sie weiter unterstützen kann. Ich brauche dafür die Kooperation mit dem Klinikum rechts der Isar, die sehr gut mit uns zusammenarbeitet. Die Unterstützung von Prüfungsausschüssen und Fakultäts-Ansprechpartnern ist auch sehr wichtig. An der TUM gibt es an jeder Fakultät einen Ansprechpartner für Behinderte und chronisch Kranke. Wir sind also sehr gut organisiert, um die Probleme der Betroffenen gemeinsam zu lösen.

Hast Du sehr viel zu tun?

Ja. Ich muss sagen: Wenn die Betroffenen vor meiner Tür stehen, dann ist es meistens schon viertel nach 12. Das heißt, wenn sie kommen haben sie meist schon enorme Schwierigkeiten hinter sich. Es kostet die Betroffenen wirklich viel Überwindung, hier herzukommen und sich zu outen. Wenn sie da sind, ist das Problem für sie alleine nicht zu lösen, sonst hätten sie es selbst gemacht. Das ist dann meine Aufgabe.

Bekommst Du noch anderweitig Unterstützung von der TUM?

Ja, auf alle Fälle, mein Kollegium der Studienberatung und Schulprogramme, aber auch meinen Kollegen Prof. Dr. Diepold möchte ich erwähnen. Er ist an der TUM Beauftragter für die Belange von behinderten und chronisch kranken Studierenden und unterstützt diese auf hochschulpolitischer Ebene. Bei besonderen Fällen oder auch bei bürokratischen Dingen brauche ich immer wieder seine Hilfe. Er ist eine große Unterstützung für mich in meiner Arbeit hier an der Servicestelle.

Gibt es so eine Servicestelle an jeder Uni?

Im Rahmen der Inklusion sollte jede Hochschule eine Stelle für Behinderte und chronisch Kranke haben.

(Interview: Verena Pongratz)


Alain M.G. Kathola ist in Kinshasa im Kongo geboren. Er lebt seit 25 Jahren in Deutschland und hat vor 15 Jahren Pädagogik, Psychologie und Soziologie an der LMU München studiert. Kontakt: Servicestelle für behinderte und chronisch kranke Studierende und Studieninteressierte

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