• 18.12.2020
  • Lesezeit: 4 Min.

50.000 politische Entscheidungen aus 195 Staaten analysierbar

Größte Datenbank zu Corona-Maßnahmen online

Eine Forschungsgruppe hat die weltweit größte Datenbank zu politischen Entscheidungen zur Corona-Pandemie aufgebaut. In „CoronaNet“ sind Informationen über rund 50.000 Maßnahmen in 195 Staaten, teils bis zur kommunalen Ebene, abruf- und filterbar. Die Datenbank bietet damit eine hochdifferenzierte Grundlage für Regierungen, Wissenschaft und Medien, um die Wirkung der Pandemie-Politik zu analysieren. Geleitet wird die Gruppe an der Hochschule für Politik (HfP) an der Technischen Universität München (TUM).

Frau mit Maske in leerem Flughafenterminal Pexels.de/ Anna Shvets
Reisebeschränkungen wurden von vielen Regierungen erlassen.

Wie streng muss ein Lockdown sein, um Wirkung zu zeigen? Wann haben Länder mit niedrigen Covid-19-Fallzahlen welche Entscheidungen getroffen? Ist die Corona-Politik von Zentralstaaten erfolgreicher als von föderalen Staaten? Um analysieren zu können, welche staatlichen Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie wann, wo und wie wirken, ist eine große Menge zuverlässiger Informationen unabdingbar – denn jeder Staat und vielfach auch jedes Bundesland und jede Kommune haben in dieser einmaligen Situation anders entschieden.

Ein internationales Forschungsnetzwerk, koordiniert am Lehrstuhl für International Relations, Hochschule für Politik München an der TUM, hat deshalb die weltweit größte Datenbank zu politischen Entscheidungen zur Pandemie erstellt. „CoronaNet“ enthält inzwischen Informationen über mehr als 50.000 Maßnahmen, die Regierungen in 195 Ländern in Reaktion auf die Pandemie beschlossen haben. Die Datenbank wird von derzeit mehr als 500 Forschenden und Studierenden laufend ergänzt.

Das Material ist nicht nur umfassender, sondern auch deutlich differenzierter als andere Datensätze. Erfasst werden

  • die einzelnen Maßnahmen, die 18 Kategorien zugeordnet werden, zum Beispiel Social Distancing, Einschränkungen des Schulunterrichts oder Investitionen in das Gesundheitswesen
  • der Zeitpunkt der Einführung der Maßnahmen und wie lange sie gelten
  • ob die Entscheidung auf der nationalen, regionalen oder kommunalen Ebene getroffen wurde
  • auf wen oder was die Maßnahmen angewendet werden, also ob beispielsweise Reisebeschränkungen für die einheimische oder die ausländische Bevölkerung bestimmt sind
  • das Gebiet, für das die Maßnahmen angeordnet werden, etwa der Gesamtstaat oder nur einzelne Regionen
  • ob die Maßnahmen Empfehlungen oder verpflichtend sind.

Visualisierungen der Zeitverläufe

Sämtliche Daten stehen öffentlich auf www.coronanet-project.org zur Verfügung und können dort nach verschiedenen Kategorien gefiltert werden. Das ermöglicht eine enorme Bandbreite und Detailtiefe an Analysemöglichkeiten. So könnte etwa ermittelt werden, welche Ausgangsbeschränkungen Südkorea im Vergleich zu Singapur erlassen hat oder ob die Covid-Testmaßnahmen in Kalifornien von der Regierung des Bundesstaats oder in Washington beschlossen wurden. Mit einem Dashboard lassen sich die Zeitverläufe der abgefragten Entscheidungen visualisieren. Ergänzend hat die Forschungsgruppe zahlreiche Übersichtsartikel zu einzelnen Staaten verfasst.

Die Daten können auch exportiert werden – für Nutzerinnen und Nutzer, die wenig Erfahrung mit Statistikprogrammen haben, stellt „CoronaNet“ eigens eine Lernplattform bereit. „CoronaNet ist ein echtes Open-Science-Projekt“, betont der Projektleiter Luca Messerschmidt vom Lehrstuhl für International Relations der TUM. „Unser Ziel ist, in dieser Situation großer Unsicherheit möglichst schnell möglichst viele Grundlagen für möglichst wertvolle Analysen zu schaffen“, ergänzt die zweite Projektleiterin Dr. Cindy Cheng.

Erste Studien zeigen Unterschiede zwischen Staaten

Die Datenbank wird bereits weltweit von Politik, Wissenschaft und Medien genutzt, nicht zuletzt um die Maßnahmen in Relation zu den Covid-19-Fallzahlen zu setzen und so ihre Wirksamkeit zu untersuchen. Auch Mitglieder der „CoronaNet“-Gruppe haben Daten in eigenen Forschungsarbeiten ausgewertet. Beispielsweise haben die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Corona-Politik von Zentralstaaten und föderalen Staaten verglichen. Dabei wurde deutlich, dass nicht in allen Föderalstaaten die Bundesländer einen ähnlich großen Anteil an den Entscheidungen zur Pandemie hatten wie die deutschen Länder. In der Schweiz fand vielmehr eine Zentralisierung der Corona-Politik von den Kantonen auf die Bundesregierung statt.

In einer weiteren Studie konnten die Forschenden die vielfach geäußerte Vermutung belegen, dass autoritäre Staaten häufiger als andere Länder Maßnahmen angeordnet haben, die gleichzeitig dazu geeignet sind, Kritik zu unterdrücken. Vor allem verhängten diese Regierungen häufiger Abriegelungs- und Ausgangssperren, taten dies zu einem früheren Zeitpunkt in der Pandemie und hielten diese Regelungen über einen längeren Zeitraum aufrecht. (Die beiden Studien durchlaufen derzeit den wissenschaftlichen Begutachtungsprozess und stehen als sogenannte Vorab-Publikationen zur Verfügung.)

Zusammenschluss mit anderen Projekten

Das Team hat sich zum Ziel gesetzt, neue Informationen über politische Entscheidungen zu Covid-19 binnen fünf Tagen in die Datenbank einzuarbeiten. Andere Forschungsgruppen liefern inzwischen Daten zu. „CoronaNet“ partizipiert zudem an dem im November gestarteten Großprojekt „PERISCOPE“, bei dem 32 Forschungseinrichtungen die sozialen, politischen und wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie in Europa untersuchen.

„Die Pandemie stellt Regierungen in aller Welt vor immer neue Herausforderungen“, sagt Prof. Tim Büthe, Inhaber des Lehrstuhls für International Relations und Koordinator der TUM-„PERISCOPE“-Projekte. „Umso wichtiger ist, dass alle, die Politik mitgestalten, Entscheidungen auf der Basis wissenschaftlich fundierter Analysen treffen können. Dazu braucht man gute, umfangreiche Daten. Deshalb kann man die Leistungen und das Engagement, vor allem der Promovierenden und Studierenden, die diesen Datensatz in kürzester Zeit aufgebaut haben, gar nicht hoch genug einschätzen.“

Publikationen

Cheng, Cindy, Joan Barceló, Allison Hartnett, Robert Kubinec, and Luca Messerschmidt. 2020. COVID-19 Government Response Event Dataset (CoronaNet v1.0). Nature Human Behaviour (2020). DOI:10.1038/s41562-020-0909-7

Büthe, Tim and Barceló, Joan and Cheng, Cindy and Ganga, Paula and Messerschmidt, Luca and Hartnett, Allison Spencer and Kubinec, Robert. Patterns of Policy Responses to the COVID-19 Pandemic in Federal vs. Unitary European Democracies (September 7, 2020). DOI:10.2139/ssrn.3692035

Barceló, Joan, Tiril H. Rahn, Cindy Cheng, Robert Kubinec, and Luca Messerschmidt. Suppression and Timing: Using COVID-19 Policies Against Political Dissidents? (November 12, 2020). DOI:10.31235/osf.io/yuqw2

Weitere Informationen und Links
  • CoronaNet: www.coronanet-project.org
  • Die Kerngruppe des „CoronaNet“-Projekts besteht aus Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der Hochschule für Politik München (HfP) an der TUM sowie der TUM School of Management, der New York University Abu Dhabi, der Universidade de Brasília, der University of Southern California, der Miami University und der Nazarbayev University. Das Projekt wird gefördert vom EU-Horizon-2020-Programm und dem Leibniz-Forschungsverbund „Krisen einer globalisierten Welt“ / Hessische Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung.
  • Erfahrungsbericht “Behind CoronaNet: How we built our dataset”
  • PERISCOPE: 32 Partnerinstitutionen aus 15 europäischen Ländern untersuchen in den nächsten drei Jahren die sozialen politischen und ökonomischen Auswirkungen der Pandemie im Projekt „PERISCOPE – Pan-europäische Antwort auf die Auswirkungen von Covid-19 sowie zukünftige Epidemien und Pandemien“, das von der EU mit 10 Millionen Euro gefördert wird. HfP und TUM sind an dem Verbund neben „CoronaNet“ mit einem weiteren Projekt beteiligt: Janina Steinert, Professorin für Global Health, und Tim Büthe, Professor für International Relations, erforschen, wie Bürgerinnen und Bürger auf die Pandemie-Gefahren reagieren. So untersuchen sie zum Beispiel die Bereitschaft, Warn-Apps auf Smartphones einzusetzen oder sich impfen zu lassen, und wie es um das Vertrauen in das Gesundheitssystem bestellt ist.

Technische Universität München

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Kontakte zum Artikel:

Luca Messerschmidt, MPhil
Technische Universität München / Hochschule für Politik München
Lehrstuhl für International Relations
Tel.: +49 89 907793 107
luca.messerschmidtspam prevention@hfp.tum.de

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