• 14.2.2022
  • Lesezeit: 3 Min.

Experiment KATRIN grenzt Neutrinomasse mit Weltrekord-Präzision ein

Neutrinos sind leichter als 0,8 Elektronenvolt

Das internationale KArlsruhe TRItium Neutrino Experiment, kurz KATRIN, angesiedelt am Karlsruher Institut für Technologie (KIT), hat die Neutrinomasse erstmals auf unter ein Elektronenvolt (eV) eingegrenzt und damit eine „Barriere“ in der Neutrinophysik durchbrochen. Aus den aktuell in der Fachzeitschrift Nature Physics veröffentlichten Daten lässt sich für die Masse des Neutrinos eine Obergrenze von 0,8 eV ableiten, eine bisher weltweit unerreichte Präzision.

Einbau von Elektroden in das Hauptspektrometer des KATRIN-Experiments Joachim Wolf / KIT
Einbau von Elektroden in das Hauptspektrometer des KATRIN-Experiments

Neutrinos sind die wohl faszinierendsten Elementarteilchen in unserem Universum. In der Kosmologie spielen sie eine wichtige Rolle bei der Bildung von großräumigen Strukturen, und in der Welt der Teilchenphysik nehmen sie durch ihre winzige Masse, die auf neue physikalische Prozesse jenseits unserer bisherigen Theorien hinweist, eine Sonderstellung ein. Ohne eine Messung der Neutrinomasse würde unser Verständnis des Universums unvollständig bleiben.

Hier setzt das internationale KATRIN-Experiment am KIT mit Partnern aus sechs Ländern, darunter auch die Technische Universität München (TUM), als weltweit sensitivste Waage für Neutrinos an. Es benutzt den Beta-Zerfall von Tritium, einem instabilen Wasserstoff-Isotop, um aus der Energieverteilung der bei diesem Zerfall erzeugten Elektronen die Masse des Neutrinos zu bestimmen. 

Dazu ist ein enormer technischer Aufwand notwendig: Das 70 Meter lange Experiment beherbergt die weltweit intensivste Quelle von Tritium sowie ein riesiges Spektrometer, mit dem sich die Energien der Zerfallselektronen mit bisher unerreichter Präzision messen lassen. 

Analyse der Daten

Die hohe Qualität der ersten Daten nach der Inbetriebnahme im Jahr 2019 konnte in den letzten beiden Jahren kontinuierlich gesteigert werden. „KATRIN als Experiment mit höchsten technologischen Anforderungen läuft nun wie ein perfektes Uhrwerk“, freut sich Guido Drexlin vom KIT, der Projektleiter und einer der beiden Co-Sprecher des Experiments. Christian Weinheimer, Universität Münster, der andere Co-Sprecher, ergänzt: „Dabei waren die Reduktion der Störsignale und die Erhöhung der Signalrate entscheidend für das neue Resultat.“

Die Auswertung dieser Daten stellte das internationale Team um die beiden Analyse-Koordinatoren Susanne Mertens, Max-Planck-Institut für Physik (MPP) und Technische Universität München und Magnus Schlösser, KIT, vor große Herausforderungen: Jeder Einfluss auf die Neutrinomasse, so klein er auch sein mochte, musste detailliert untersucht werden.

„Nur durch diese aufwändige und akribische Arbeit konnten wir eine systematische Beeinflussung unseres Resultats durch andere Effekte wirklich ausschließen. Wir sind ganz besonders stolz auf unser Analyseteam, das sich dieser Herausforderung mit großem Engagement erfolgreich gestellt hat“, so Schlösser und Mertens.

Neue Obergrenze für die Neutrinomasse

Die experimentellen Daten des ersten Messjahres und die Modellierung auf Basis einer verschwindend kleinen Neutrinomasse passen perfekt: Daraus lässt sich eine neue Obergrenze für die Masse des Neutrinos von 0,8 Elektronenvolt (eV) bestimmen.* Erstmals stößt so ein direktes Neutrinomassen-Experiment in den kosmologisch und teilchenphysikalisch wichtigen Massenbereich unter einem Elektronenvolt vor, in dem die fundamentale Massenskala von Neutrinos vermutet wird. 

„Die Teilchenphysik-Gemeinschaft ist begeistert, dass die 1-eV-Barriere von KATRIN durchbrochen wurde“, kommentiert Neutrinoexperte John Wilkerson, University of North Carolina, der Vorsitzende des KATRIN Executive Boards.

Susanne Mertens, Professorin für Dunkle Materie an der TUM, erläutert den Weg zum neuen Rekord: „Unser Team am Max-Planck-Institut für Physik in München hat für KATRIN eine neue Analysemethode entwickelt, die speziell auf die Anforderungen dieser hochpräzisen Messung optimiert ist. Diese Strategie wurde erfolgreich für die vergangenen und aktuellen Ergebnisse eingesetzt. Meine Gruppe ist hochmotiviert: Wir werden uns auch den künftigen Herausforderungen der KATRIN-Analyse mit neuen kreativen Ideen und akribischer Genauigkeit stellen.“

Weitere Messungen sollen Empfindlichkeit weiter verbessern

Die Co-Sprecher und Analyse-Koordinatoren von KATRIN beschreiben die kommenden Ziele: „Die weiteren Messungen zur Neutrinomasse werden noch bis Ende 2024 andauern. Um das volle Potential dieses einzigartigen Experiments auszuschöpfen, werden wir nicht nur die Statistik der Signalereignisse kontinuierlich erhöhen; wir entwickeln und installieren fortwährend Verbesserungen zur weiteren Absenkung der Störereignisrate.“

Dabei spielt die Entwicklung des neuen Detektorsystems TRISTAN, mit dem sich KATRIN ab 2025 auf die Suche nach „sterilen“ Neutrinos im Kiloelektronvolt-Massenbereich begeben soll, eine besondere Rolle. Solche sterilen Neutrinos wären Kandidaten für die mysteriöse Dunkle Materie, die sich schon in vielen astrophysikalischen und kosmologischen Beobachtungen manifestiert hat, deren teilchenphysikalische Natur aber noch immer unbekannt ist

Das 70 Meter lange KATRIN-Experiment mit seinen Hauptkomponenten Tritiumquelle, Hauptspektrometer und Detektor. Joachim Wolf / KIT
Das 70 Meter lange KATRIN-Experiment mit seinen Hauptkomponenten Tritiumquelle, Hauptspektrometer und Detektor.
Publikationen

Direct neutrino-mass measurement with sub-eV sensitivity
KATRIN Collaboration
Nature Physics, Feb. 14, 2022 – DOI: 10.1038/s41567-021-01463-1
 

Weitere Informationen und Links

Die Forschungsarbeit wurde gefördert vom Europäischen Forschungsrat (ERC) im Rahmen des Forschungs- und Innovationsprogramms Horizon 2020 der Europäischen Union, dem Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), der Helmholtz-Gemeinschaft (HGF), der Helmholtz Alliance for Astroarticle Physics (HAP), der Doctoral School KSETA am Karlsruher Institut für Technologie (KIT), des Helmholtz Young Investigator Programms sowie des Max-Planck@TUM Tenure Track-Programms in Deutschland, dem US Department of Energy und dem Federal Prime Agreement in den Vereinigten Staaten, dem Ministerium für Wissenschaft und Hochschulbildung der Russischen Föderation und dem Ministerium für Bildung, Jugend und Sport der Tschechischen Republik.

Rechenzeit wurde bereitgestellt vom Institut für Astroteilchenphysik am KIT, der Max Planck Computing and Data Facility (MPCDF) auf dem Forschungscampus Garching und dem National Energy Research Scientific Computing Center (NERSC) am Lawrence Berkeley National Laboratory.

* Entsprechend der von Albert Einstein aufgestellten Formel, E=mc2, entsprechen 0,8 eV einer Masse von 1,4*10-36 kg.
 

Technische Universität München

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Kontakte zum Artikel:

Prof. Dr. Susanne Mertens
Professur für Dunkle Materie
Technische Universität München und
Max-Planck-Institut für Physik
Tel.: +49 89 3235 4262 (TUM) – +49 89 32354 590 (MPP)
E-Mail: susanne.mertensspam prevention@tum.de
 

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